Höchstgeschwindigkeiten auf Landstraßen und Überholverbote den Gefährdungen anpassen
- Infrastruktur
Deutscher Verkehrssicherheitsrat – 2014
Beschluss
Zur Verbesserung der Sicherheit auf Landstraßen empfiehlt der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) im Einzelnen folgende Maßnahmen:
- Die meisten Getöteten auf deutschen Straßen sind Opfer von Landstraßenunfällen. Um das Ziel der Bundesregierung, die Anzahl der Getöteten bis 2020 um weitere 40 % zu senken, erreichen zu können, muss die Sicherheit von Landstraßen daher mit hoher Priorität verbessert werden.
- Deutlich überhöhte Geschwindigkeiten von mehr als 100 km/h können auf Landstraßen zu besonders schweren Unfallfolgen fü̈hren. Sowohl Aufklärung als auch eine konsequente Überwachung und Ahndung von erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitungen sind erforderlich, um das Verhalten der Verkehrsteilnehmer zu einer sicheren und angepassten Fahrweise zu beeinflussen (siehe auch DVR-Beschluss „Verkehrsüberwachung“ vom 23. Mai 2014).
- Als zulässige Höchstgeschwindigkeit auf schmalen Landstraßen mit einer Fahrbahnbreite bis einschließlich sechs Metern sollte 80 km/h gelten. Zu prüfen ist die Frage der Umsetzung.
- Sofern die örtlichen Randbedingungen es zulassen (z.B. breiter Querschnitt, Trassierung mit großen Sichtweiten, hindernisfreie Seitenräume, separate Führung des Fußgänger- und Radverkehrs) kann auch eine Anhebung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit für Lkw auf 80 km/h sinnvoll sein.
- In Bereichen mit unzureichenden Überholsichtweiten sollte streckenbezogen geprüft werden, ob ein explizites Überholverbot anzuordnen ist. Die Kriterien für die Beurteilung ausreichender Überholsichtweiten in den Regelwerken sollten vereinheitlicht werden.
- Der Identifizierung besonderer Gefahrenstellen auf Landstraßen kommt eine große Bedeutung zu. Hierzu sind zusätzlich zur Arbeit der Unfallkommission auch streckenbezogene Analysen (wie z.B. das Verkehrssicherheitsscreening in Baden-Württemberg oder die Sicherheitsanalyse von Straßennetzen nach ESN) durchzuführen. Dort, wo geschwindigkeitsbedingte Auffälligkeiten im Unfallgeschehen zu verzeichnen sind, ist die zulässige Höchstgeschwindigkeit der jeweiligen Gefahrenlage anzupassen. Überwachungsmaßnahmen und Aufklärungskampagnen können diese Maßnahmen sinnvoll unterstützen.
- Bei der Planung von Neu-, Aus- und Umbaumaßnahmen ist eine frühzeitige Abstimmung zwischen Straßenverkehrs- und Straßenbaubehörde erforderlich, um Planung und eventuell erforderliche Verkehrsbeschränkungen einander anzupassen. Dabei ist die Einheit von Bau und Betrieb entscheidend. Das bereits bewährte Instrument des Sicherheitsaudits ist verbindlich bei allen Planungen einzusetzen.
- Nicht der Situation angepasste Geschwindigkeit ist eine Hauptunfallursache auch im Landstraßenbereich. Es sollten daher weitergehende und vertiefende Forschungen durchgeführt werden, um die Unfallursache „nicht angepasste Geschwindigkeit“ auch fahrzeugbezogen detailliert zu analysieren und wirksame Maßnahmen dagegen abzuleiten.
Darüber hinaus erinnert der DVR an seine Beschlüsse „Bekämpfung von Baumunfällen im Straßenverkehr“ vom 04. Mai 2009 und „Motorradsicherheit“ vom 30. Oktober 2012.
Erläuterung
Die meisten tödlichen Unfälle geschehen in Deutschland auf den Landstraßen. Im Jahr 2013 kamen 58 % (1.9341) der 3.3392 Getöteten auf Landstraßen ums Leben. Jeder Vierte davon (5073) war Opfer eines Baumunfalls. Besonders viele Verkehrsteilnehmer starben bei Unfällen in Kurven (704 Getötete4) und an Kreuzungen, Einmündungen sowie Zufahrten (377 Getötete5). Aber auch Überholunfälle (171 Getötete auf Landstraßen6) führen immer wieder zu schweren Unfallfolgen. Neben Unfällen mit Pkw-Fahrern sind besonders Motorzweiräder häufig an Unfällen mit Todesfolge beteiligt (462 Getötete7). Die polizeiliche Unfallstatistik zeigt, dass bei den schweren Unfällen auf Landstraßen häufig eine der Situation nicht angepasste Geschwindigkeit eine entscheidende unfallbegünstigende Komponente ist.
Der DVR ist der Auffassung, dass durch konsequente Anwendung des technischen Regelwerks bei der Planung von Landstraßen – insbesondere der neuen Richtlinien für die Anlage von Landstraßen (RAL, Ausgabe 2012) der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen – die Verkehrssicherheit vor allem durch Förderung angemessener Fahrweise, durch sichere Knotenpunktgestaltung und durch Bereitstellen sicherer Überholmöglichkeiten deutlich verbessert werden kann. Die Planungsgrundsätze der RAL sollten sinngemäß auch im Bestand angewendet werden. Die Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) sowie die Neufassung der Richtlinien für die Markierung von Straßen (RMS) und die RAL sollten aufeinander abgestimmt werden.
Bei 21.8328 von 73.0039 Unfällen mit Personenschaden auf Landstraßen, darunter 3.33410 Unfälle mit Motorrädern, war die Geschwindigkeit eine wesentliche Ursache für den Unfall. Ob auch eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit ursächlich für den Unfall war, lässt sich nur in Einzelfällen und mit Hilfe von Gutachten klären. Aus der Polizeistatistik lässt sich daher nicht mit Sicherheit sagen, ob die Geschwindigkeit bei einem Unfall höher war als die an der Unfallstelle zulässige Höchstgeschwindigkeit.
Anders als in vielen europäischen Ländern gilt auf deutschen Landstraßen eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h; auch dort, wo auf schmalen Fahrbahnen neben dem Kraftfahrzeugverkehr landwirtschaftlicher Verkehr, Radfahrer und Fußgänger zugelassen sind.
Eingriffsmöglichkeiten bietet lediglich die StVO, die jedoch starke Einschränkungen aufweist. So dürfen beispielsweise nach § 39 StVO „örtliche Anordnungen durch Verkehrszeichen nur dort getroffen werden, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend geboten ist“.
Die besonderen Umstände sind in aller Regel Unfallereignisse, die erst dann greifen, wenn es bereits zu Unfällen gekommen ist. Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung, auf die verkehrlichen und geometrischen Gegebenheiten mit Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu reagieren, bestehen daher kaum und würden zudem zu einer massiven Erhöhung der Schilderzahl führen. Dies betrifft insbesondere ganze Streckenzüge, für die das vom Bund für Autobahnen bereits eingeführte Instrument „Empfehlungen für die Sicherheitsanalyse von Straßennetzen (ESN)“ auch für Landstraßen eine bewährte Grundlage bilden kann.
Ein vielfach vernachlässigter Aspekt ist zudem die Regelung, dass Lkw mit mehr als 7,5 t zulässigem Gesamtgewicht auf Landstraßen nicht schneller als 60 km/h fahren dürfen. Dies führt zu (theoretischen) Geschwindigkeitsdifferenzen von 40 km/h und damit unter Umständen zu einem sehr starken Überholdruck, der ebenfalls als ein erhöhtes Sicherheitsrisiko gilt.
Unstrittig ist, dass niedrigere Geschwindigkeiten insbesondere zu geringeren Unfallfolgen führen. Offen ist, bei welchen Geschwindigkeiten sich (schwere) Landstraßenunfälle tatsächlich ereignen.
Eine Detailanalyse der Unfalldatenbank der Unfallforschung der Versicherer zeigt, dass sich zwei Drittel der Landstraßenunfälle (n= 695 Unfälle mit 142 Getöteten, repräsentative Stichprobe) mit schweren Unfallfolgen (Schadenaufwand > 20.000 Euro) bei Geschwindigkeiten unterhalb von 80 km/h ereignen. Bei Geschwindigkeiten über 100 km/h ereignen sich zwar nur 7 % der Landstraßenunfälle. Hierbei sind jedoch 28 % der Getöteten zu verzeichnen. Im Geschwindigkeitsbereich von 80 bis 100 km/h ereignen sich 25 % der Unfälle mit 32 % der Getöteten.
Repräsentative Stichprobe Unfalldatenbank UDV | Unfälle | Getötete | ||
n | % | N | % | |
Geschwindigkeit bekannt | 695 | 100 | 142 | 100 |
> 100 km/h | 53 | 7,6 | 40 | 28,2 |
80 - 100 km/h | 174 | 25 | 46 | 32,4 |
< 80 km/h | 468 | 67,4 | 56 | 39,4 |
Unfälle auf Landstraßen mit einem Schadenaufwand von mehr als 20.000 €, UDV
Diese Daten machen deutlich, dass mindestens 28% der auf Landstraßen Getöteten bei Unfällen mit Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu verzeichnen sind. Es wird zwar ersichtlich, dass es auch bei Geschwindigkeiten unterhalb von 80 km/h zu Unfällen mit Getöteten kommt. In Relation zum Gesamtunfallgeschehen ist jedoch das Risiko, bei einem Unfall mit mehr als 100 km/h tödlich verletzt zu werden, sechsmal höher als bei Geschwindigkeiten unterhalb von 80 km/h.
Nicht abschließend geklärt ist, ob bei den jeweiligen Unfällen mit mehr als 100 km/h eine geringere Geschwindigkeit tatsächlich in der jeweiligen Unfallkonstellation auch zu einem Überleben des Unfallopfers beigetragen hätte. Ein seitlicher Aufprall auf einen Baum kann auch bereits bei 80 km/h tödlich sein, ebenso der Aufprall eines Motorradfahrers mit 60 km/h auf eine scharfkantige Schutzplanke. Sicher ist jedoch, dass immerhin 28 % der Getöteten auf Unfälle mit Geschwindigkeiten von mehr als 100 km/h zurückgehen.
Überholunfälle auf Landstraßen gehören ebenfalls zu sehr folgenschweren Unfällen. Jeder zweite Überholunfall geschieht dabei bei Gegenverkehr oder unklarer Verkehrslage und zumeist in Bereichen, in denen weder ein Überholverbot noch reduzierte Höchstgeschwindigkeiten angeordnet sind. Besonders häufig geschehen Überholunfälle dort, wo die Sichtweiten nicht ausreichend sind, um einen Überholvorgang sicher abschließen zu können. Überholverbote reduzieren das Unfallrisiko und die Unfallschwere, eine Kombination mit Geschwindigkeitsbeschränkungen verstärkt die Reduzierung11.
gez.
Dr. Walter Eichendorf
Präsident
1 Verkehrsunfälle 2013, Tabelle 1.2, Statistisches Bundesamt Fachserie 8 Reihe 7, 2014
2 Verkehrsunfälle 2013, Tabelle 1.2, Statistisches Bundesamt Fachserie 8 Reihe 7, 2014
3 Verkehrsunfälle 2013, Tabelle 3.7, Statistisches Bundesamt Zeitreihen, 2014
4 Verkehrsunfälle 2013, Tabelle 2.9, Statistisches Bundesamt Fachserie 8 Reihe 7, 2014
5 Verkehrsunfälle 2013, Tabelle 2.9, Statistisches Bundesamt Fachserie 8 Reihe 7, 2014
6 Sonderabfrage beim Statistischen Bundesamt, 9/2014
7 Verkehrsunfälle 2013, Tabelle 2.8, Statistisches Bundesamt Fachserie 8 Reihe 7, 2014
8 Verkehrsunfälle 2013, Tabelle 6.2.4, Statistisches Bundesamt Fachserie 8 Reihe 7, 2014
9 Verkehrsunfälle 2013, Tabelle 1.2, Statistisches Bundesamt Fachserie 8 Reihe 7, 2014
10 Verkehrsunfälle 2013, Tabelle 6.2.4, Statistisches Bundesamt Fachserie 8 Reihe 7, 2014
11 Richter/Ruhl, Untersuchung von Maßnahmen zur Prävention von Überholunfällen auf einbahnigen Landstraßen, Unfallforschung der Versicherer, September 2014