"Wir müssen mehr über Lösungen sprechen"
- Fahrrad und Pedelec
Frau Kühl, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Berufung. Sie sind die Eine unter insgesamt sieben Radprofessoren in Deutschland. Ihr Schwerpunkt lautet Radverkehrsmanagement. Was genau verbirgt sich dahinter?
Radverkehrsmanagement ist eine neue Wortschöpfung. Dahinter verbirgt sich Mobilitätsmanagement mit einem Schwerpunkt auf der Radverkehrsförderung.
Unter Mobilitätsmanagement versteht man die Frage, wie man Menschen dazu bewegen kann, sich künftig umweltfreundlich fortzubewegen. Dazu zählen neben dem Radverkehr auch der Fußverkehr und der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV).
Sie sagen, dass auch der Fußverkehr in Ihre Lehre fällt. Welchen Platz muss er in der Realität einnehmen?
Der Fußverkehr wird leider gern vergessen, so wie es beim Radverkehr lange der Fall war und in Teilen immer noch ist. Das liegt daran, dass zu Fuß gehen für uns absolut selbstverständlich ist. Der Fußverkehr wird häufig nicht als Mobilitätsform wahrgenommen, es sei denn man legt seinen Berufsweg bewusst zu Fuß zurück. Oder man legt mit seinen Kindern viele Wege zu Fuß zurück, z.B. um sie in den Kindergarten oder die Schule zu begleiten.
Ich würde mir sehr wünschen, dass die Nahmobilität im Fokus steht und kein Verkehrsträger bevorzugt wird. Letztendlich geht es immer um ein Zusammenspiel unterschiedlicher Mobilitätsformen.
Wie können künftig Ihre Absolventinnen und Absolventen dazu beitragen, dass der Radverkehr sicherer wird?
An der Ostfalia Hochschule können Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen, u.a. Tourismus und Sport und Verkehr, Veranstaltungen zum Thema Radverkehrsmanagement besuchen. Dadurch wird das Thema in die Breite getragen. Außerdem wird das Thema so auch aus vielen verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert. Ich bin sicher, dass das den Radverkehr bereichern wird.
Schließlich sind es dann auch diese Studierenden, die später z.B. in der Radverkehrsplanung, im Regionalmanagement oder in der Beratung tätig sein werden.
Welche Rolle spielt die Verkehrssicherheit in Ihrer Lehre?
Die Sicherheit ist ein Kern der Radverkehrsförderung. Wenn ich mich unsicher fühle, steige ich nicht aufs Rad. Das absolute Basic ist deshalb, dass neben der objektiven auch die subjektive Sicherheit gegeben ist. Dabei muss man beachten, dass diese bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt.
Viele Menschen haben z.B. Schwierigkeiten den Straßenverehr in komplexen Situationen wie Kreuzungen zu überblicken. Wichtig ist es dann, Verkehre zu separieren.
Ein anderes Beispiel: Wenn ein Tempolimit dazu betragen kann, die Gefahr von Unfällen zu reduzieren, sollte man es einführen. Es ist meiner Meinung nach überkommen erst einmal nachweisen zu müssen, dass eine Situation gefährlich ist, bevor sie entschärft wird.
Sicherer wird der Verkehr auch, wenn sich die Wahrnehmung des Radverkehrs ändert. Rad Fahrende sind gleichberechtigte Verkehrsteilnehmende, die ihren Platz im Straßenverkehr beanspruchen dürfen. Dadurch kann und darf es auch zu einer Neuaufteilung des Straßenraums kommen.
Was können z.B. Professuren wie die Ihre tun, damit wir im Straßenverkehr stärker ein Miteinander statt ein Gegeneinander erleben?
Mehr Miteinander im Straßenverkehr ist für mich ein großes Anliegen. Dadurch, dass der Radverkehr an der Ostfalia Hochschule in unterschiedlichen in Kontexten thematisiert wird, kann es gelingen, dass wir den Radverkehr als legitime Verkehrsform stärker in die Köpfe bringen. Das ist Teil des Prozesses, der dazu führen kann, dass wir von den gegenseitigen Vorwürfen wegkommen.
Ich möchte den Blick für verschiedene Optionen der Mobilität öffnen. Mobilität kann auch vom ÖPNV, dem Rad- oder Fußverkehr gedacht werden.
Wir sprechen noch nicht genug über die Lösungen und den Gewinn, wenn mir Mobilität anders denken.
Ich bin sicher, dass es viele Menschen gibt, die sich nicht an diesem Gegeneinander beteiligen, sondern primär ein Interesse daran haben, gut und sicher von A nach B zu gelangen. Sie würden auch das Rad nutzen, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu gibt.
Was empfinden Sie persönlich als größte Herausforderung, um insbesondere in Städten eine Gleichberechtigung der Verkehrsarten herzustellen? Was sind Stellschrauben?
Ich habe das Gefühl, dass wir immer wieder über die Konflikte sprechen, die sich durch eine Verkehrswende ergeben. Wir sprechen noch nicht genug über die Lösungen und den Gewinn, wenn mir Mobilität anders denken. Mobilität vom ÖPNV, Rad- und Fußverkehr aus gedacht würde eine Verbesserung der Lebensqualität gerade in den Städten bedeuten.
Wir sprechen auch immer wieder von den Gefahren des Autoverkehrs. Es ist für uns selbstverständlich uns daran anzupassen und z.B. regelkonform den Gehweg zu nutzen.
Meine und unsere Aufgabe ist es das Bewusstsein dafür schärfen, dass Städte durch eine neue Nahmobilität anders aussehen können, dass durch eine geringere Verkehrsbelastung mehr Ruhe einkehrt, z.B. wie bei verschiedenen Neubaugebieten in Freiburg im Breisgau, die autoarm gehalten wurden und mehr Spielraum für Kinder bieten. Das hat Wert und Qualität.
Durch Corona sind viele Menschen wieder aufs Auto umgestiegen. Wirft Corona die Verkehrswende zurück?
Die Gefahr besteht natürlich, wenn man die Bevölkerung nicht sensibilisiert, dass es auch andere Möglichkeiten der Fortbewegung gibt, z.B. das Fahrrad. Der ÖPNV steht vor der Herausforderung, Fahrgäste wieder zurück gewinnen zu müssen. Das ist aufgrund der derzeitigen Lage natürlich schwierig. Zudem ist gerade auch nicht der richtige Zeitpunkt, große Werbekampagnen für den ÖPNV zu starten. Aber man muss dran bleiben, damit diese wichtige Mobilitätsform wieder häufiger genutzt wird, sobald die Pandemie händelbar ist.
Was glauben Sie: Wann werden infrastrukturelle Änderungen im Hinblick auf die Sicherheit ungeschützterer Verkehrsteilnehmender für uns selbstverständlich sein?
Wichtig ist mir zunächst, dass die Debatte über die Verkehrssicherheit ungeschützterer Verkehrsteilnehmender erst einmal auf breiter Fläche eröffnet wird.
Der Radverkehr ist politisch nicht mehr nur ein grünes Thema, sondern auch bei anderen Parteien angekommen. Das ist schon ein sehr guter Schritt. Diese Debatte müssen wir weiterführen und auch Konflikte bei unterschiedlichen Interessenslagen aushandeln.
Argumente, dass wir den Autoverkehr für den Einzelhandel brauchen, sind althergebracht.
Ich bin nicht allzu optimistisch, dass wir ganz plötzlich eine sichere Verkehrsinfrastruktur haben. Aber ich kann optimistisch zur Kenntnis nehmen, dass die Debatte in vollem Gang ist.
Außerdem kann ich auch in andere Länder schauen, wie sie sich weiterentwickeln. Die Niederlande sind ein gutes Beispiel.
Inwiefern sind die Niederlande ein gutes Beispiel? Können Sie das genauer erklären?
In den Niederlanden war man immer sehr konsequent in der Umsetzung einer radfreundlichen und verkehrssicheren Infrastruktur. Zudem war der Autoverkehr dort immer sehr teuer, auch in den Begleitkosten. In den Niederlanden hat man neben den wirtschaftlichen auch die ökologischen Vorteile des Radverkehrs erkannt und ihn deshalb konsequent gefördert. Letztlich war es dann ein sich selbstverstärkender Prozess. Alle machen mit und erkennen, dass diese Art der Mobilität eine gute Sache ist.
Da sind wir in Deutschland noch lange nicht. Wir verhandeln noch über Grundlegendes. Aber erste Schritte sind getan.
Warum gelingt dieses sichere Mobilitätsverhalten in dem Nachbarland scheinbar einfach, dauert bei uns aber viel länger?
In anderen Ländern wird die Debatte über den Autoverkehr weniger emotional geführt, als bei uns. Die Emotionalität bei diesem Thema spiegelt sich in Deutschland schon in Worten wider. Man hört und liest: „Deutschland ist ein Autoland“, „Deutschland ist eine Wirtschaftsmacht, aufgrund seiner Automobilindustrie“. Wir wissen, dass viele Arbeitsplätze an diesem Wirtschaftszweig hängen. Damit ist es auch ein existenzielles Thema und zwangsläufig emotional.
Die Identität Autoland zu sein und auch die wirtschaftliche Abhängigkeit von der Automobilindustrie, ist in den Niederlanden nicht so stark ausgeprägt. Dadurch gibt es weniger Konflikte und auch das Miteinander der unterschiedlichen Verkehrsteilnehmenden ist weniger ruppig. Das macht es leichter, dass verschiedene Mobilitätsformen nebeneinander und miteinander bestehen.
Auch in Niederlanden kann man Auto fahren. Aber es ist viel häufiger umständlicher und das Auto deshalb nicht das Verkehrsmittel der Wahl. Bei uns ist das anders.
Häufig wird das niederländische Kreuzungsdesign als besonders sicher hervorgehoben. Sollten wir unsere Infrastruktur nun so gestalten wie in den Niederlanden?
Nein, wir können nicht alles genauso tun. Die Anforderung das zu tun wäre zwar ein konsequenter Weg, würde uns aber überfordern. Hinzu kommt, dass Kreuzungen unterschiedliche Bedingungen haben. Sie unterscheiden sich im Platzangebot, wie stark sie frequentiert werden. Deshalb gibt es auch nicht die Lösung für Kreuzungen.
Bei Straßen, die weniger frequentiert werden, helfen vielleicht schon kleinere Maßnahmen wie farbliche Markierungen. Das ist ohnehin die allererste Möglichkeit, wie man die Sicherheit steigern kann. Das kann jede Kommune tun. Darüber hinaus muss man manchmal Lösungen auch erst suchen.
Wichtig ist aber, dass wir Maßnahmen ausprobieren, die die Infrastruktur sicher gestalten und nicht warten. Natürlich müssen diese Maßnahmen dann evaluiert und gegebenenfalls auch nachjustiert werden. Infrastruktur ist kein statisches Konstrukt, sie lassen sich durchaus anpassen, wie man am Beispiel der Pop-up Radwege sieht. Aber sichtbare Zeichen sind das Wichtigste, um Menschen auch zu ermutigen alternative Mobilitätsformen zum Auto zu wählen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Radverkehrs in Deutschland in 10 Jahren?
Ich wünsche mir, dass wir das Thema konsequent angehen und insbesondere auf kommunalpolitischer Ebene nicht die Köpfe einziehen, wenn es mal Gegenwind gegen infrastrukturelle Maßnahmen für den Radverkehr gibt.
Argumente, dass wir den Autoverkehr für den Einzelhandel brauchen, sind althergebracht. Wir brauchen die Offenheit, den Gegenbeweis erbringen zu dürfen, die Offenheit einfach loszulegen.
Das bedeutet nicht, dass alle sofort Fahrrad fahren sollen. Dieser Prozess benötigt Zeit. Aber wir brauchen das Zugeständnis, dem Radverkehr eine Chance zu geben, seine Potenziale sichtbar zu machen.
Vielen Dank für das Interview!
Kurz-Vita Prof. Dr. Jana Kühl
Prof. Dr. Jana Kühl wurde 1984 in Lübeck geboren. Sie studierte Geographie mit den Nebenfächern Soziologie und Öffentliches Recht an der Universität Kiel und promovierte an der Fakultät Raumplanung der TU Dortmund. Nach der Promotion sammelte sie Erfahrungen in der Nahverkehrsplanung in Schleswig-Holstein und widmete sich der Förderung von Inter- und Multimodalität. Zuletzt war sie am Geographischen Institut der Universität Kiel tätig. Hier untersuchte sie im Projekt „NAF-Bus“ die Akzeptanz autonom fahrender Busse im ÖPNV. Im November 2020 trat sie eine Professur für Radverkehrsmanagement an der Ostfalia Hochschule Salzgitter an und forscht und lehrt hier zu Themen des Radverkehrs und Multi/Intermodalität.