Technische Maßnahme an Fahrzeugen mit kraftbetriebenen Aufbauten und Aufbauteilen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit
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Einführung
Bei Fahrzeugen mit kraftbetriebenen Aufbauten oder Aufbauteilen1 (z. B. Kipperaufbauten, Hubladebühnen, Abstützungen) können diese bei verschiedenen Arbeitsstellungen unter Umständen über die Fahrzeugumrisse hinausragen. Zum Beispiel besteht beim Fahren mit Aufbauten in Arbeitsstellung infolgedessen Kollisionsgefahr mit Brücken, Ampeln, Unterführungen, Freileitungen, seitlich neben dem Fahrzeug befindlichen Hindernissen, etc. Dabei werden jedes Jahr sowohl Fahrzeuginsassen als auch Personen im Umfeld der Fahrzeuge schwer oder tödlich verletzt.2
Eine Fahrbewegung mit über den Umriss hinausragenden kraftbetriebenen Fahrzeug- oder Aufbauteilen kann technisch eingeschränkt werden. Sensoren an Fahrzeugaufbauten können deren Stellung überwachen. Über elektronische Steuergeräte sind gezielte Bremseingriffe oder Eingriffe in das Motormanagement technisch möglich. Dafür müssen an Fahrzeugen mit diesen Aufbauten, abhängig von der Stellung des Aufbaus, Fahrbewegungen in der Geschwindigkeit begrenzt oder verhindert werden.
Bei Anhängern sind entsprechende Systeme, je nach technischer Gestaltung der elektronischen Bremssysteme, bereits erhältlich oder nachrüstbar. Überschreitet z. B. das Fahrzeug mit angehobenem Aufbau eine zuvor definierte Geschwindigkeit, kommt es nach mehreren Warnbremsungen zur Bremsung bis zum Stillstand.
Auch bei Lkw und Sattelzugmaschinen ist die erforderliche Technik im Markt verfügbar. Die grundlegende Problematik liegt im Austausch der Information zwischen dem Aufbau und dem Fahrzeug. Normierte Schnittstellen sind dafür größtenteils nicht vorgesehen.
Neben den Bau- und Ausrüstungsanforderungen des Straßenverkehrsrechts müssen Fahrzeug- und Aufbauhersteller bei kraftbetriebenen Aufbau- und Anbauteilen auch die Richtlinie 2006/42/EG erfüllen.
Fahrzeuge (Kraftfahrzeuge und Fahrzeugkombinationen), bei denen kraftbetriebene Aufbauten oder Aufbauteile über den Fahrzeugumriss hinausragen können, verfügen i.d.R. über ergänzende Einrichtungen, die die Fahrzeugführenden optisch und bei Fahrbeginn zusätzlich akustisch warnen, wenn sich Aufbauten oder Aufbauteile nicht in der sicheren Fahrstellung befinden. Aus dem Unfallgeschehen und durchgeführten Unfalluntersuchungen durch gesetzliche Unfallversicherungsträger kann abgeleitet werden, dass über die Ausstattung mit diesen Warneinrichtungen hinaus technische Maßnahmen zur effektiven Verhinderung des Unfallgeschehens erforderlich sind.
Die Verantwortung für den verkehrssicheren Zustand des Fahrzeugs und dessen Beladung liegt weiterhin beim Fahrenden (siehe § 1 Abs. 2 StVO) und dem Halter (§ 31 StVZO). Durch zusätzliche Fahrzeugausstattung können die Fahrenden dabei unterstützt werden. Im Sinne der Verkehrssicherheit empfiehlt der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) e.V., die geltenden Vorschriften anzupassen.
Empfehlungen
Zur Verbesserung dieser Situation und der Erhöhung der Verkehrssicherheit schlägt der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) e.V. dem Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) sowie den Nutzfahrzeug- und Aufbauherstellern die Umsetzung folgender Maßnahmen vor:
Befinden sich kraftbetriebene Aufbauten oder Aufbauteile nicht in der sicheren Fahrstellung, ist technisch sicherzustellen, dass dies dem Fahrenden optisch deutlich wird und/oder über eine akustische oder optische Warneinrichtungen deutlich gemacht wird und die Fahrbewegung des Fahrzeugs eingeschränkt oder die Fahrgeschwindigkeit begrenzt wird. Ausgenommen sind vom Hersteller vorgesehene Bewegungen, die für die bestimmungsgemäß vorgesehene Arbeitsfunktion erforderlich sind. Die Fahrgeschwindigkeit muss dann auf das für die Arbeitsfunktion maximal notwendige Maß begrenzt sein.
Die technische Einschränkung der Fahrbewegung bzw. Begrenzung der Fahrgeschwindigkeit bei über den Fahrzeugumriss hinausragenden Aufbauten oder Aufbauteilen darf keine anderen Risiken auslösen, wie etwa ein unbeabsichtigtes Wegrollen infolge automatischen Lösens der Bremse nach einem Absenken eines Fahrzeugaufbaus in die Fahrstellung oder ein unkontrolliertes Verzögern beim Anheben eines Fahrzeugaufbaus während der Fahrt
Zur Sicherstellung der genannten Punkte sind herstellerübergreifend technische Voraussetzungen zu schaffen. Das BMDV wird gebeten zu prüfen, inwieweit es standardisierter Schnittstellen bedarf.
Das BMDV sollte sich auf nationaler sowie internationaler Ebene dafür einsetzen, gesetzliche Anforderungen zu erlassen, welche die Ausstattung von Fahrzeugen und Fahrzeugkombinationen mit kraftbetriebenen Aufbauten mit vorgenannten Systemen verpflichtend vorschreibt.
Den Normungsausschüssen des VDA und VDMA wird darüber hinaus empfohlen, entsprechende, harmonisierte Normen zu erarbeiten.
Erläuterungen
Erläuterung zu Punkt 1)
Zu den vom Hersteller intendierten Bewegungen, die für die bestimmungsgemäß vorgesehene Arbeitsfunktion angelegt sind, zählen z. B. das Verziehen des Schüttgutes mit Kipperfahrzeugen beim Abkippen, das Zurücksetzen und Vorziehen eines Abrollkippers mit ausgeschwenkten Knickausleger zum Aufnehmen oder Absetzen eines Behälters oder das Ein- und Ausfahren mit abgesenkter Hubladebühne unter Laderampen.
Kraftbetriebene Fahrzeugaufbauten und -aufbauteile fallen in den Anwendungsbereich der Maschinenverordnung – 9. ProdSV. Danach muss der Hersteller oder sein Bevollmächtigter vor dem Inverkehrbringen oder vor der Inbetriebnahme sicherstellen, dass die kraftbetriebenen Fahrzeugaufbauten und -aufbauteile den in Anhang I der Richtlinie 2006/42/EG aufgeführten, für sie geltenden grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen entsprechen.
Anhang I der Richtlinie 2006/42/EG behandelt in Nr. 3 zusätzliche grundlegende Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen zur Ausschaltung der Gefährdungen, die von der Beweglichkeit von Maschinen ausgehen. Nr. 3.3.2 Anhang I der Richtlinie 2006/42/EG lautet wie folgt:
“Ist eine Maschine zum Arbeiten mit Vorrichtungen ausgerüstet, die über ihr normales Lichtraumprofil hinausragen (z. B. Stabilisatoren, Ausleger usw.), so muss der Fahrer vor dem Verfahren der Maschine leicht überprüfen können, ob die Stellung dieser Vorrichtungen ein sicheres Verfahren erlaubt. Dasselbe gilt für alle anderen Teile, die sich in einer bestimmten Stellung, erforderlichenfalls verriegelt, befinden müssen, damit die Maschine sicher verfahren werden kann. Das Verfahren der Maschine ist von der sicheren Positionierung der oben genannten Teile abhängig zu machen, wenn das nicht zu anderen Risiken führt.”
Die Europäische Kommission veröffentlichte im Dezember 2009 einen Leitfaden für die Anwendung der Maschinenrichtlinie 2006/42/EG mit dem Zweck, die Konzepte und Anforderungen der Richtlinie 2006/42/EG zu erläutern, um auf diese Weise für eine einheitliche Auslegung und Anwendung in der gesamten EU zu sorgen.
§ 305 des Leitfadens erläutert Nr. 3.3.2 Anhang I der Richtlinie 2006/42/EG und nennt unter den Beispielen der in Frage kommenden Vorrichtungen auch Betonpumpen sowie Kipperaufbauten auf Lastwagenfahrgestellen. Weiter legt der § 305 des Leitfadens die leichte Überprüfbarkeit vor dem Verfahren wie folgt aus:
“In allen derartigen Fällen muss der Fahrer vor Beginn der Fahrbewegungen überprüfen können, ob die betreffenden Vorrichtungen sich in einer sicheren Fahrstellung befinden und ob sie erforderlichenfalls in dieser Stellung arretiert sind. Falls eine entsprechende Sichtkontrolle nicht auf einfache Weise möglich ist, müssen am Fahrerplatz die erforderlichen Anzeige- oder Warneinrichtungen vorhanden sein”
Hieraus lässt sich ableiten, dass die Sichtkontrolle auf einfache Weise vom Fahrerplatz aus möglich sein muss. In produktspezifischen Normen anderer Vorrichtungen wurde die Forderung nach Anzeige- oder Warneinrichtungen am Fahrerplatz bereits eingearbeitet3.
Den letzten Satz aus Nr. 3.3.2 Anhang I der Richtlinie 2006/42/EG konkretisiert § 306 des Leitfadens wie folgt:
“Verriegelungssysteme sollten eingebaut werden, um Fahrbewegungen der Maschinen zu verhindern, wenn sich die betreffenden Einrichtungen nicht in der sicheren Fahrstellung befinden und erforderlichenfalls verriegelt sind, sofern durch derartige Verriegelungen nicht andere Risiken hervorgerufen werden, beispielsweise unerwartetes Anhalten bei Fahrten auf öffentlichen Straßen.”
Für kraftbetriebene Aufbauten oder Aufbauteile von Fahrzeugen gibt es produktspezifische harmonisierte Normen i. S. § 4 ProdSG nur in sehr geringem Umfang.
Erläuterung zu Punkt 3)
Fahrzeug- und Aufbauhersteller müssen zur Erfüllung der Konformität mit Nr. 3.3.2 Anhang I der Richtlinie 2006/42/EG die Entwicklung und den serienmäßigen Einbau der erforderlichen Technik unverzüglich vornehmen.
Herstellerübergreifend sind technische Voraussetzungen zu schaffen, die eine Integration der erforderlichen Sicherheitsfunktion in Fahrzeuge mit kraftbetriebenen Aufbauten und Aufbauteilen ermöglichen. Hierzu gehört z. B. die Ausrüstung von Fahrzeugen mit einer Schnittstelle, die eine sichere Kommunikation zur Steuerung zwischen Fahrgestell und Fahrzeugaufbau für die Verriegelungsfunktion gewährleistet.
Gez.
Manfred Wirsch
Präsident
1 "Kraftbetriebene Aufbauten oder Aufbauteile" werden im weiteren Text aufgrund der besseren Lesebarkeit als "Aufbauten" bezeichnet.
2 Quelle: u. a. Erhebungen der BG Verkehr
3 z. B. 5.10.1 der DIN EN 1756-1:2021-10 " Hubladebühnen – Plattformlifte für die Anbringung an Radfahrzeugen – Sicherheitsanforderungen – Teil 1: Hubladebühnen für Güter" und 5.6.1.4 und 5.6.1.6 der DIN EN 12999:2021-11 "Krane – Ladekrane“