Psychische Folgen von Verkehrsunfällen
Deutscher Verkehrssicherheitsrat – 2019
Beschluss
Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) fordert:
- Forschungsprojekte zur Erfassung psychischer Folgen von Straßenverkehrsunfällen, in denen deren Dimension, die Identifizierung besonders gefährdeter Personen und die Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit im Fokus stehen.
- Umfassende Aufklärung über die Folgen schwerer psychischer Traumatisierung infolge von Straßenverkehrsunfällen sowie über Betreuungs- und Interventionsmöglichkeiten.
- Aus- und Fortbildungen, die die Besonderheit psychischer Unfallfolgen thematisieren und damit die entsprechende Sensibilität erhöhen; diese sollen sich u.a. an professionelle Ersthelfende, Polizei, Klinikpersonal, Hausärztinnen und -ärzte und pädagogische Fachkräfte richten.
- Eine Verbesserung der allgemeinen Versorgung psychischer Erkrankungen aufgrund von Straßenverkehrsunfällen.
- Die Etablierung eines Verfahrens, das eine vergleichbare Versorgung der von einem Unfall betroffenen Menschen gewährleistet, wie es heute im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherungsträger bereits vorhanden ist.
- Zusammenarbeit und Austausch auf allen Ebenen, insbesondere zwischen den Ministerien für Verkehr und digitale Infrastruktur und für Gesundheit sowie gegebenenfalls jeweils zwischen und mit den Innen- und Kultusministerien der Länder hinsichtlich der Problematik psychischer Unfallfolgen.
Erläuterung
Straßenverkehrsunfälle können bei den Unfallbeteiligten sowohl kurz- als auch langfristig belastende psychische Folgen haben. Beteiligte sind einerseits die Verunglückten und andererseits die mittelbar Betroffenen wie Ersthelfende, Angehörige oder Zeuginnen und Zeugen. Psychische Folgen zeigen sich zunächst in einer akuten Belastungsreaktion, die die überwiegende Anzahl der Betroffenen selbstständig bewältigt.
Jedoch gelingt dies nicht allen, so dass sich psychische Erkrankungen wie z.B. eine posttraumatische Belastungsstörung oder eine Depression entwickeln können.
Wie viele der Betroffenen eine psychische Erkrankung infolge eines Straßenverkehrsunfalls in Deutschland entwickeln, ist nicht bekannt. In einer Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) litt jeder Vierte der befragten Schwerverletzten, die sich zur stationären Behandlung in einem Krankenhaus befanden, unter psychischen Beeinträchtigungen wie Angst, Depression oder einer posttraumatischen Belastungsstörung1. Diese Größenordnung wird durch zwei internationale Meta-Analysen2 und weitere Studien3 bestätigt. Besonders gefährdet sind nach gegenwärtigem Kenntnisstand Personen, die sich der Unfallsituation hilflos ausgesetzt erlebten, psychisch vorbelastete Personen4 sowie Kinder und Jugendliche5, da diese noch nicht in gleichem Ausmaß über Ressourcen zur Bewältigung verfügen wie Erwachsene. Langzeitfolgen zeigen sich noch nach 1,5 Jahren nach dem Unfallereignis bei ca. einem Drittel aller Intensivpatienten nach Polytraumata, wobei dabei PTBS, Depressionen und Schmerzen im Vordergrund stehen6.
Im Sinne der Vision Zero gilt es nicht nur, Unfälle zu vermeiden, sondern auch Unfallfolgen zu reduzieren. Die Auswirkungen der psychischen Unfallfolgen auf das spätere Verkehrsverhalten sind bisher nicht ausreichend untersucht. Es ist zu vermuten, dass Betroffene in vergleichbaren Verkehrssituationen nicht angemessen reagieren, sich unsicher verhalten oder die Teilnahme am Verkehr vermeiden.
Durch einen frühzeitigen Zugang zu niederschwelligen professionellen Hilfsangeboten können psychische Unfallfolgen reduziert werden. Diese Erfahrung ist in einer Handlungsanweisung der gesetzlichen Unfallversicherungsträger beschrieben, die in der Praxis erfolgreich umgesetzt wird7. Ein vergleichbarer Zugang zu professionellen Hilfsangeboten sollte allen Unfallbeteiligten zur Verfügung stehen.
Ein solcher Zugang ist bisher nicht gewährleistet. Psychische Beeinträchtigungen sind oftmals schwer zu (er)fassen, können mit Verzögerung auftreten und spielen im Versorgungsprozess – insbesondere bei Verunglückten mit schweren Verletzungen – (zunächst) eine nachgeordnete Rolle. Auch hinsichtlich des Versorgungsprozesses lassen sich Problemfelder benennen8, wie z.B. ein Mangel an Akzeptanz und Sensibilität in Bezug auf psychische Erkrankungen bei den Betroffenen selbst, aber auch bei deren Angehörigen und den professionellen Helfern. Weitere Problemfelder sind eine unzureichende Diagnostik (z.B. Einsatz von Screening-Verfahren) in der Akutsituation, Schwierigkeiten bei der Therapeuten- und/oder Beratungssuche, fehlende Betreuungs- und Behandlungskapazitäten oder Unterschiede im Versorgungsprozess in Abhängigkeit des verantwortlichen Kostenträgers.
Für Informationen über adäquate Betreuungs- und Behandlungs-angebote gibt es seit 2019 die Website www.hilfefinder.de. Diese wurde von der BASt, dem DVR und der VOD (Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland) entwickelt.
gez.
Prof. Dr. Walter Eichendorf
Präsident
1 Auerbach, K. (2014). Psychische Folgen von Verkehrsunfällen. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen. Unterreihe Mensch und Sicherheit (M 245). Bremerhaven: Wirtschaftsverlag NW.
2 Dai W, Liu A, Kaminga AC, Deng J, Lai Z, Wen SW. Prevalence of Posttraumatic Stress Disorder among Children and Adolescents following Road Traffic Accidents: A Meta-Analysis.Canadian Journal of Psychiatry, August 2018 und Lin W, Gong L, Xia M, Dai W: Prevalence of posttraumatic stress disorder among road traffic accident survivors: A PRISMA-compliant meta-analysis. Medicine (Baltimore). January 2018
3 Craig, A.; Tran, Y.; Guest, R.; u.a.: Psycological impact of injuries sustained in motor vehicle crashes: systematic review and meta-analysis., BMJ Open: bmjopen.bmj.com/content/6/9/e011993
4 Auerbach, K. (2014). Psychische Folgen von Verkehrsunfällen. ebenda
5 Dai W, Liu A, Kaminga AC, Deng J, Lai Z, Wen SW. Prevalence of Posttraumatic Stress Disorder among Children and Adolescents following Road Traffic Accidents: A Meta-Analysis. ebenda
6 EU-Project Rehabil-Aid Final Report: Reducing the harm and the burden of injuries and human loss caused by road traffic crashes and addressing injury demands through effective interventions.
7 Beispiel der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtpflege BGW:: Handlungsanleitung Arbeitsunfall und psychische Gesundheitsschäden, August 2018 sowie Handlungsanleitung zum Angebot „Telefonisch-psychologische Beratung Unfallverletzter“ der BGW, Januar 2017
8 Auerbach, K. & Surges, F. (2019). Versorgung psychischer Unfallfolgen. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen. Unterreihe Mensch und Sicherheit (M 291). Bremen: Fachverlag NW in der Carl Ed. Schünemann KG.